Liebe Mitmenschen!
Es zündelt und funkt. Beängstigend gezündelt wird rund um uns, und so manche Funken entfachen großes Feuer.
Ich wende mich mit diesem Brief an euch, da ich große Sorge in meinem Herzen habe. Diese möchte ich mit euch teilen, in der Hoffnung, dass ihr mir emotional folgen könnt.
Wenn ich sehe, wie viele Menschen heute bei den österreichischen Demonstrationen gegen die CoV-Maßnahmen mitmarschiert sind, wird mir heiß und kalt zugleich. Heiß wird mir durch den zunehmenden Druck, der von allen Seiten auf uns einwirkt. Dort ist es das Virus und dann auch noch eines seiner Mutanten, die beide um sich greifen, immer noch hohe Erkrankungs-, Hospitalisierungs und Todeszahlen verursachen. Dieses Um-Sich-Greifen des Virus bedingt wiederum langanhaltende oder dauernd wiederkehrende Lockdown-Maßnahmen, mit denen es uns Menschen im Gros alles andere als gut geht. Auf der anderen Seite sind es die Meldungen aus Facebook, Whatsapp, auf der Straße, von Bekannten…, die teilweise voller Aggression zum Aufbegehren gegen die CoV-Maßnahmen aufrufen. Links und rechts von uns stehen da also zwei Wände. Die Wand des Virus ist uns schon länger bekannt. Sie bewegt sich gerade kaum, die Zahlen sind maßnahmenbedingt relativ stabil. Doch die andere Wand, die Wand des Widerstands – sie ist eine Feuerwand - rückt beängstigend näher. Blicke ich in die Augen der Menschen, die diese Feuerwand bilden, läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Nicht, weil diese Menschen nur Kälte und Verbitterung ausstrahlen würden. Nein, vielmehr, da sich hier Menschen verschiedenster Herkünfte mit verschiedensten Ideologien verbünden, um sich Gehör und Gesehen-Werden zu verschaffen, und ich die Gefühle hinter ihren Blicken zu kennen glaube.
Ja, es gibt massenweise Punkte, die zu Kritik an der waltenden Regierung und ihrem Vorgehen in diesen Pandemiezeiten auffordern. So empfinde ich es als geradezu beschämend, dass weder Bundeskanzler noch Vizekanzler noch Gesundheitsminister fähig sind, öffentlich zu ihren Fehlern, ihrem Überfordert-Sein angesichts ihrer schwierigen Situation zu stehen – da sehe ich ein großes menschliches Manko, das bei Personen in diesen Ämtern nicht zu finden sein sollte. Ebenso ist der Narzissmus unseres Bundeskanzlers für mich irritierend. Warum sieht er sich so gerne bei Ankündigungen von Ankündigungen von Pressekonferenzen, statt sich die Zeit zu nehmen, eine öffentliche, differenzierte und uns mündige Bürger wertschätzende Erklärung aller CoV-Maßnahmen auszuarbeiten, in Folge derer er uns erlaubt, mitzudiskutieren und unsere verschiedenen Meinungen als wichtige Beiträge zu unserer Demokratie gut heißt? Auch die Pannen beim Testen (viel zu wenig und zu inkonsequent) und Impfen (viel zu langsam) lassen ihre Souveränität im Planen und Vorgehen vermissen.
Diese Dinge und viele mehr regen uns auf. Und trotzdem frage ich mich, warum diese Funken an Kritik ein so immer größer werdendes Feuer zu verursachen vermögen. Ich frage mich, warum so Viele von uns zu lodern beginnen, wenn sie mit dem Zündeln von Verschwörungstheoretikern und Corona-Leugnern in Kontakt kommen. Rund um mich entdecke ich immer mehr Menschen, die mit Differenzierungs- und Reflexionsfähigkeit und mit großer Intelligenz begabt sind und zugleich mit Verschwörungstheorien liebäugeln. Corona als vorbei reitendes Ross, das nur dadurch relevant für uns wird, da Politiker in aller Welt auf dieses Ross aufspringen, um uns Bürger*innen in die Schranken zu weisen und um neue autoritäre Regime zu implementieren?
Immer schon gibt es Zündler. Menschen, die es lieben mit Funken des Misstrauens kleine Feuer des Widerstands zu entfachen. Dass es solche Feuer geben darf, ist ein Zeichen für Demokratie und kann in vielen Fällen durchaus als wertvolles Regulativ für politische Maßnahmen der Regierenden gesehen werden. Dass sich aber solche Feuerwände wie gerade jetzt auftun, deutet darauf hin, dass massenhaft trockenes Holz herumliegt.
Die Frage also ist: Warum sind so viele von uns so ausgetrocknet, so durstig, dass sie bereitwillig ihren Teil zum Brand beitragen, indem sie sich dem Feuer hingeben, mitzündeln, ihre wütenden Gedanken verbreiten, posten, posten, posten, demonstrieren?
Es fällt mir nicht leicht, euch diese meine Analyse der derzeit lebenden Generationen mitzuteilen, da ich mir dabei arrogant und besserwisserisch vorkomme. Zugleich bin ich mir bewusst – das versichere ich euch aus ganzem Herzen, dass ich genauso zu einer dieser Generationen gehöre und mich aus meinen Urteilen über uns nicht ausnehme.
Ich glaube, wir haben größtenteils etwas für das Leben sehr Bedeutendes nicht oder kaum gelernt: Mit Unvorhersehbarem, Unkontrollierbarem umzugehen. Ja, wir haben sicherlich alle schon Erfahrungen der Ohnmacht, der Hilf- und Ausweglosigkeit gemacht. Doch haben wir selten wirklich um unsere Existenzen bangen müssen, haben selten gehungert und gefroren, sind in den wenigsten Fällen dem Tod gefährlich nahe gekommen. Wir, die wir unter 80 Jahre alt und in Österreich geboren sind, haben auch noch keinen Krieg erlebt. Wir wissen nicht wirklich, wie es ist, in einem Luftschutzbunker zu sitzen, einen Teil unserer Angehörigen draußen an der Front oder in einem der von Bomben bedrohten Gebäude zu wissen, und Angst, richtig Angst zu haben. Wir können es uns als gebürtige Europäerinnen auch nur ausmalen, wie es für eine Mutter in einem afrikanischen Armenviertel ist, wenn sie zusehen muss, wie die Hälfte ihrer Kinder an Hunger stirbt, eines davon an der eigenen, durch das eigene Hungern milchlosen Brust. Was kann einem in solchen Situationen helfen, Mensch zu bleiben? Ich habe da das Bild von dem unaufhörlich musizierenden Orchester auf der untergehenden Titanic vor Augen. Diese Musiker leisten wohl den wertvollsten Dienst an der Menschlichkeit, den sie zu leisten imstande sind. Sie musizieren weiter, sie geben den Gefühlen der Menschen Töne und vereinen sie zu einem Gesamtklang. Keiner bleibt ungesehen, alle dürfen sich in der Musik aufgefangen fühlen. Ähnlich erscheinen mir die gemeinsamen Gebete von Menschen, die zusammen in Luftschutzbunkern ausharren. Das Lied von Dietrich Bonhoeffer erklingt in meinem Ohr: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarte ich getrost was kommen mag.“ Er dichtete es inmitten von nationalsozialistischen Gräueltaten gegen Widerständige wie ihn. Er glaubte trotz aller Unmenschlichkeit an den liebenden Gott und den menschlichen Kern in allen von uns. Dieser menschliche Kern ist das bedingungslose Geliebt-Sein. Dass sich Menschen in derartigen Situationen dem Vertrauen an die Liebe anheim geben, ist ein unüberschätzbares Geschenk an die Menschheit.
Nein. Ich möchte mit diesen Bildern keine Dramen romantisieren. Ich möchte auch nicht sagen, dass alle Menschen durch solche Ohnmachtssituationen hindurch gehen sollten. Ich denke aber, wir sollten uns doch in Erinnerung rufen, dass Krankheit und Tod zum Leben gehören, genauso wie die Einschränkungen, die mit der Vermeidung von Krankheit einhergehen. Ich denke, wir sollten uns mehr mit der Tatsache auseinandersetzen, dass wir nicht alles kontrollieren, nicht alles energetisch beeinflussen, nicht alles lenken können. Ich denke auch, dass wir uns bewusst machen sollten, dass wir in einer von großen Freiheiten geprägten Zeit und Gesellschaft aufgewachsen sind, dass diese Freiheiten aber nicht selbstverständlich sind. Freiheiten brauchen dort Beschränkungen und Grenzen, wo es um die Wahrung der Würde und der Unversehrtheit der Schwächeren geht. Wir dürfen unsere Freiheiten auf keinen Fall ausnützen, um Gedanken des gegenseitigen Unverständnisses, der Verschwörung, des Hasses zu säen – denn so sind gerade wieder die Schwächeren die Leidtragenden. Vielmehr sollten wir unsere Freiheiten nützen, um nach dem wertschätzenden Gespräch mit den Trägern anderer Meinungen zu suchen. Wir sollten unsere Möglichkeiten der Wissensbeschaffung nützen, um das Gute hinter den Pandemie-Maßnahmen (nämlich die Verhinderung des Sterbens von noch mehr Menschen) zu suchen und zu finden. Und wir sollten mit offenen Augen die negativen Auswirkungen der Maßnahmen ansehen und differenziert zu beurteilen versuchen, wo die Gefahr der Ansteckung durch die Gefahr vor krank machender sozialer Isolation überholt wird und in diesen Fällen dementsprechend handeln.
Wir befinden uns nicht auf einer untergehenden Titanic. Wir müssen nicht mit einem Flächenbrand, entfacht aus kleinen Funken, gewachsen durch massenweise trockene Scheite, mit einer Feuerwand aus Hass, Hetze und Verschwörungsglauben einen Eisberg aus dem Weg räumen. Hass trocknet uns selbst und unsere Hassobjekte aus. Misstrauen trocknet uns und die, denen wir misstrauen, aus. Sture Abwendung vom Anderen trocknet uns und den Anderen aus. Vielmehr müssen wir, die wir ALLE auf der „Coronic“ sitzen, die ganze Ozeane unruhiger See durchqueren muss, Töne der Menschlichkeit und Klänge der Anteilnahme zu Gehör bringen. In einem solchen Musikstück sind auch Disharmonien – wie respektvoll ausgedrückte Kritik und wertschätzend mitgeteiltes Unverständnis gegenüber anderen Meinungen – herzlich willkommen. Die Suche nach Harmonie, die sich in Zuwendung, im Anschauen anderer Ansichten ausdrückt, bleibt aber ein wichtiger Stimmungsträger der Musik.
Ich würde mir wünschen, wir würden mehr gemeinsam musizieren (und das geht auch mit physischem Abstand zueinander) als uns gegenseitig anschreien.
Danke, dass ihr meinen Text und gelesen und mir zu folgen versucht habt.
Ich freue mich auf euer Feedback.
Eure Margot Brucker